"Das Gehirn ist die letzte Instanz"

  03. September 2019
"Das Gehirn ist die letzte Instanz"

Werbewirkung: Markenexperte Olaf Hartmann erklärt, was das Streicheln von Handys, flauschige Küken und Print mit Neurowissenschaft zu tun haben.

Wird Digitalwerbung gefährlich überschätzt? Die kritischen Stimmen mehren sich. Doch keiner formuliert es drastischer als Olaf Hartmann: „Wie Alkohol ist der digitale Rausch eine Anleihe auf das Markenglück von morgen.“ Wie er das meint, erklärt der Experte in der kommenden Woche beim Horizont-Werbewirkungsgipfel. Im Interview läuft er sich schon einmal warm.

Herr Hartmann, in welcher Marketingdisziplin war der digitale Rausch – und ist nun der Kater – am stärksten: In der Produkt-, Distributions- oder in der Kommunikationspolitik?

Ich denke hier vor allem an die Kommunikation. In Bereichen wie dem Produktdesign sehen wir ein sehr gutes Verständnis dafür, dass Produkte immer ganzheitlich gestaltet sein müssen, um erfolgreich zu sein. Autodesigner etwa wissen genau, dass die beste Technik und Elektronik unter der Haube alleine nicht für den Erfolg eines neuen Modells sorgen. Die Menschen müssen Qualität an allen Touchpoints spüren: am Klang der Tür, an der Optik der Instrumente, an der Haptik des Lenkrads und am Innenraumduft.

Warum ist das so wichtig?

Weil es gehirngerechter ist. Mit jedem zusätzlichen Sinn, den man bei einer Botschaft nutzt, erhöht sich die Gehirnaktivität im Kopf um 1000 Prozent. Je mehr sensorische Kanäle gezielt angesprochen werden, desto überzeugender ist der Gesamteindruck. In der Kommunikation wurde in den vergangenen Jahren allerdings etwas anderes gepredigt: Digital sei die Lösung, egal, für welches Problem.

Wie kam es zu dieser digitalen Hybris ausgerechnet in der Kommunikation?

Das liegt an einem Übertragungsfehler. Digitale Prozesse haben die Welt revolutioniert und sind die Killerapplikation für die Lösung vieler Probleme. Nur gilt das nicht für die menschliche Wahrnehmung. Der Mensch ist und bleibt ein multisensorisches Wesen. Unsere Meinungen zu Marken und Produkten speisen sich aus unterschiedlichsten Quellen. Jeder Medienkanal hat da seine besonderen Eigenschaften hinsichtlich der Rezeption und schafft einen Kontext, der die Botschaft unterschiedlich färbt. Dieser sogenannte Framing-Effekt ist psychologisch gut erforscht. Der Gedanke, dass jeder Kontaktkanal einfach mit einem anderen austauschbar sei und man nur auf den günstigsten TKP achten sollte, ist grundsätzlich falsch. Wir müssen vielmehr die qualitative Wirkung der einzelnen Mediakanäle bewerten.

Punktet Digital wirklich allein nur mit einem günstigen Preis?

Nein, „Digital first“ kann für die eine Marke genau der richtige Ansatz sein, für eine andere jedoch der falsche. Zum optimalen Kommunikationsmix führen drei Schritte: von der Analyse über die Strategie zur Taktik. In meinem Beratungsalltag beobachte ich allerdings, dass Unternehmen häufig mit der Taktik beginnen. Das führt jedoch direkt in den Rausch der glitzernden Techniktools. Zuerst macht das Spaß, weil man auf dem Golfplatz prahlen kann oder weil eine digitale Aktivierungskampagne kurzfristig mehr Umsatz aus der Marke quetscht. Doch es fließt dann schnell zu viel Budget in digitale Kanäle und neue Tools. Die Folgen spürt man erst einige Zeit später. Wie Alkohol ist der digitale Rausch eine Anleihe auf das Markenglück von morgen.

Und nun folgt der Kater?

Wir wissen heute, dass digitale Kontakte die markenbildenden Qualitäten klassischer Medien nicht ersetzen. Trotzdem werden weiterhin Mediabudgets aus diesen Kanälen abgezogen und in digitale Aktivierungskommunikation investiert, weil alle denken, das sei die Zukunft und Print und TV würden sowieso bald sterben. Doch das digitale Heilsversprechen bekommt langsam Risse, die Anzeichen und Beispiele dafür häufen sich.

Wann liegen die ersten Langzeitstudien vor, die die Konsequenzen des Digitalrausches aufzeigen? Und ist es dann schon zu spät?

Das ist von Marke zu Marke unterschiedlich. Je älter und stärker sie ist, desto länger kann man sie melken. Aber damit ist auch irgendwann Schluss. Die aktuellen Zahlen der Meaningful-Brands-Studie von Havas zeigen, dass mittlerweile 77 Prozent aller Marken morgen verschwinden könnten, ohne dass sie jemand vermisst. Das ist der höchste jemals gemessene Wert – und er wuchs parallel mit der Verschiebung der Budgets in die Onlinekanäle. Studien der englischen Werbewirkungsforscher Peter Field und Les Binet zeigen außerdem, dass die durchschnittliche Effizienz von Kampagnen in den vergangenen zehn Jahren in Großbritannien kontinuierlich gesunken ist. Das ging auch dort einher mit dem Aufstieg des digitalen Performance-Marketings.

Sie sagen, dass digitale Kanäle, gemessen am Verhältnis zwischen Werbespendings und ROI, überbewertet seien. Zumal dann, wenn man am Ende der Customer Journey die Klicks und Käufe im Web nicht nur dem Digitalen zuordnet, sondern auch den Gattungen, die den Konsumenten zuvor zum Abschluss veranlasst haben. Warum fällt dies den sonst so scharf rechnenden Controllern in Unternehmen und Agenturen seit zehn Jahren nicht auf?

Das frage ich mich ebenfalls. Ich vermute, dass Controller die Messbarkeit digitaler Aktivitäten und einfache Erklärungen lieben. Und die digitalen Player liefern einfache Versprechen und eine Menge Zahlen, welche die Controller glücklich machen. Dass sich aber Facebook entschuldigen muss, weil Videoview-Zeiten um 80 Prozent überschätzt wurden, dass ein Großteil der bezahlten Anzeigen für den Besucher der Website gar nicht sichtbar ist, dass Performance-Berichte nicht extern auditiert werden und niemand den Umfang von Klickbetrug und Bot-Traffic exakt beziffern kann – das alles wird übersehen oder ignoriert.

Gibt es einen optimalen Mix aus Markenaufbau- und Aktivierungswerbung?

Laut Field und Binet liegt das optimale Verhältnis bei 60 zu 40 Prozent. Mittlerweile jedoch sind Aktivierungskampagnen in der Überzahl. In Branchen, in denen Aktivierung einfach ist, weil die Menschen Bedarf haben und aktiv nach Produkten suchen – etwa bei Banken –, sollte die Gewichtung eher 80/20 sein, weil Markenvertrauen besonders wichtig ist. Doch gerade hier wird überdurchschnittlich viel in konversionsorientierte Kommunikation investiert.

Konkret empfehlen Sie multisensorisches Marketing. Was steckt dahinter?

Es bedeutet, alle für die Marke und den Verkauf relevanten direkten und indirekten sensorischen Signale gezielt zu gestalten, um die Qualitätswahrnehmung von Produkten sowie die Effektivität von Kommunikation und Verkauf zu steigern. Der Psychologe Paul Watzlawick erklärte uns, warum wir nicht nicht kommunizieren können. In diesem Sinne senden auch nicht vorhandene sensorische Signale Botschaften – beispielsweise vermittelt uns die Stille im Innenraum eines Autos das Gefühl von Qualität und Sicherheit. Daher gehören die Kontrolle und Reduktion sensorischer Reize mit dazu. Auch einzelne Signale wie der Klang des Bisses in einen knackigen Apfel, der Duft von Sonnenmilch oder das Bild eines flauschigen Kükens erzeugen Assoziationen. Frei nach Watzlawick können wir also sagen: Marken können nicht nicht multisensorisch kommunizieren.

Und wegen der Haptik plädieren Sie für eine Renaissance von Print-Werbung?

Für Marken ist Print ein sehr wertvoller Frame. Werbung hier genießt mit Abstand die höchste Akzeptanz. Über 600 Millionen installierte Adblocker zeigen hingegen deutlich, wie sympathisch Onlinewerbung den Menschen ist. Diese Werbeverweigerer sind sozusagen die Gelbwesten des Internets. Print ist zudem einer der wenigen Kanäle, der fast alle unsere Sinne bedienen kann.

Also alle Budgets zurück zu Print?

Ob Print taktisch im Mediamix eine zentrale Rolle spielt, hängt immer vom Einzelfall ab. Und Crossmedia bleibt auch in Zukunft Trumpf: Eine internationale Analyse der Marktforschungsagentur Analytic Partners von über 3200 Kampagnen in sieben Branchen zeigt, dass crossmediale Werbung mit jedem zusätzlichen Kanal bis zu 35 Prozent mehr ROI erzeugt. Besonders Print strahlt positiv auf die Effektivität der anderen Kanäle ab. Das verstehen auch die großen digitalen Player: Facebook ist aktuell Deutschlands größter Werbungtreibender in Print und wirbt über diesen Kanal um Vertrauen. Zalando, Airbnb und andere Onlinehändler nutzen verstärkt Print-Mailings und drucken Kundenmagazine. Alle Produkte, die erklärungsbedürftig, exklusiv oder – wie etwa Finanzdienstleistungen – auf großes Vertrauen angewiesen sind, profitieren besonders stark von Print. Gedrucktes spielt auch im direkten Kundenkontakt eine wichtige Rolle, etwa in Form von Verkaufsliteratur. Den Verzicht darauf haben zuletzt etwa BMW und Mercedes zu spüren bekommen.

Die typische Konsumenten-Handbewegung dieses Jahrzehnts ist das „Wischen“ auf den Displays von Smartphones und Tablets. Ist das eine digitale oder eine haptische Handlung?

Diese Bewegung ist natürlich haptisch, auch wenn man damit digitale Prozesse steuert. Die Haptik spielt grundsätzlich eine sehr wichtige Rolle für die Attraktivität von digitalen Produkten. Die Explosion der Nutzung im Mobilbereich kam mit dem Touchscreen. Apple brachte uns bei, Telefone zu streicheln. Das war revolutionär und hat unsere Beziehung zu unseren Telefonen stark verändert. Der Tastsinn spielt psychologisch eine wichtige Rolle – er ist unser Wahrheitssinn. Das bildet sich schon in der Sprache ab: Wir können uns versehen und auch verhören. Das Wort „verfühlen“ kennen wir jedoch nicht. Daher ist die Haptik nach dem Sehsinn einer der wichtigsten Kanäle für die Wahrnehmung von Qualität.

Multisensorisches Marketing basiert auf Psychologie und Neurowissenschaft. Manche halten dieses „Neuro“ bloß für einen weiteren Trend, der auch wieder vergeht. Sie nicht, oder?

Der Einfluss der Neurowissenschaft auf das Marketing ist kein Trend, sondern eine logische Konsequenz. Nach dem Abklingen des ersten Hypes rund um die völlig abwegige Suche nach dem Kaufknopf im Gehirn kommen jetzt nach zehn Jahren viele wertvolle Erkenntnisse in der Marketingpraxis an. Dazu gehört ein besseres Markencode-Management. Hier wird immer noch viel Geld verschwendet: Die Positionierung der Marke muss in der Kommunikation über wiedererkennbare Codes für die Zielgruppe verständlich werden – auch ohne Markenlogos. Das gelingt aber häufig nicht.

Was können neurowissenschaftliche Messmethoden hier leisten?

Sie helfen beim Finden der richtigen Markencodes und beim Identifizieren von unpassenden. Das verkürzt die endlosen Geschmacksdiskussionen bei der kreativen Umsetzung. Marketer erfahren, wie Energie, Frische oder Geborgenheit am PoS, im TV-Spot oder bei der Verpackung aussehen, klingen oder sich anfühlen sollten. Auch bildgebende Verfahren sind wertvoll: Damit kann man die Aktivierung des Schmerzsystems im Gehirn bei variierender Preisgestaltung beobachten.

Ist „Neuro“ also jetzt ein Selbstläufer?

Neurowissenschaften und Psychologie wissen mehr als andere Disziplinen, was in unseren Köpfen passiert, und bieten deshalb, gepaart mit dem Erfahrungswissen der Praktiker, eine sehr gute Basis für erfolgreiche Markenkommunikation. Denn das Gehirn ist und bleibt die letzte Instanz dafür. Und wir haben in den vergangenen 20 Jahren mehr über das menschliche Gehirn gelernt als in den 100 Jahren zuvor. Doch die wissenschaftliche Basis vieler Marketingmodelle ist deutlich älter als 20 Jahre. Hier müssen die dahinterliegenden mentalen Modelle kritisch hinterfragt und die Entscheidungsgrundlagen aktualisiert werden.

Quelle: Horizont 34 vom 22.08.2019, Seiten 12 &13


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