Ansprache des VSM-Präsidenten Andrea Masüger anlässlich der Dreikönigstagung vom 11.1.2023. Es gilt das gesprochene Wort.
Meine Damen und Herren
Im vergangenen Jahr betrug der Anteil der News-Deprivierten im Bundesrat 14,3%. Alt Bundesrat Ueli Maurer las bekanntlich keine Zeitungen, sondern nutzte bloss die Seite 104 des Teletextes.
Diese provokative Medien-Abstinenz, die Ueli Maurer gezielt nach aussen trug, mag belustigend sein, sie hat aber einen besorgniserregenden Hintergrund:
Das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich, kurz fög, hat im Jahre 2009 erstmals den Anteil der News-Deprivierten in der Schweiz ermittelt. Also die Zahl jener Leute erhoben, die mit Nachrichten unterversorgt sind. Diese interessieren sich kaum für das Tagesgeschehen. Sie haben sich von der Informationswelt abgekoppelt.
- Der Anteil betrug damals 21% der Bevölkerung. Heute sind es 38,5%.
Wenn wir jetzt den Anstieg der News-Deprivierten-Rate der Gesamtbevölkerung seit 2009 auf den Bundesrat hochrechnen, wird dieser so ungefähr im Jahr 2050 den Anteil von 38,5% erreichen.
Dann müssen sich die Mitglieder der Landesregierung wenigstens nicht aufregen, wenn die Medien schreiben, die Schweiz habe das Pariser Klimaziel noch nicht erreicht.
Dass sich gewisse Bundesräte oder andere wichtige Politiker, ja auch gewisse Intellektuelle, den Medien verweigern, ist aber kein neues Phänomen:
- Ursula Koch sagte schon vor 20 Jahren, sie lese nur Bücher, weil sie Zeitungen anwiderten. Es gab einen Riesenwirbel, und ihre Tage als SP-Präsidentin waren bald gezählt.
- Der Schriftsteller Rolf Doebeli etwa, besser bekannt unter dem Pseudonym Dobelli, schrieb vor drei Jahren in der NZZ, er mache eine eigentliche News-Diät, er brauche weder Zeitung, Internet noch Fernsehen. Was Wichtig sei, erfahre er durch Bekannte und Verwandte. – Ja, ausgerechnet in der NZZ sagte er das...
Doch nun ist eine interessante neue Entwickung eingetreten:
Heute werden sogar Zeitungsleser, die wohl treuesten aller Mediennutzer, zu einer Art News-Deprivierten erklärt, weil sie offenbar nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind.
- In den letzten Monaten sind auffallend viele Studien erschienen – von Avenir Suisse über diverse Universitäten und Fachhochschulen bis zur Eidg. Medienkommission, die sich gestern betreffend künftiger Medienforschung zu Wort meldete.
- Diese Studien haben eines gemeinsam: Sie erklären uns alle für Langweiler! Wir sind rückständig, produzieren noch immer Zeitungen, wir bedrucken noch immer Papier, karren dieses zum Kiosk und stecken es mühsam in Briefkästen. Wie ist das doch aus der Zeit gefallen!
Doch 70% derjenigen, die regelmässig abstimmen gehen, lesen Zeitungen.
Das hat das fög herausgefunden. Der demokratische Prozess in der Schweiz wird massgeblich von Menschen angetrieben, welche diese veralteten Medien nutzen. Die News-Deprivierten hingegen meinen, beim Stimmcouvert im Briefkasten handle es sich um eine Webesendung.
Wenn uns ein Teil der Forschung also weismachen will, wir würden ohne Not einer nostalgische Postkutschen-Technologie anhängen, betreiben sie eigentlich eine sublimierte Form von Publikumsbeschimpfung.
Sie lassen einfach die Mehrzahl der Leserinnen und Leser aussen vor, die noch immer eine gedruckte Zeitung als Hauptinformationsquelle benutzen. Vor allem bei kleineren und mittleren Titeln ist diese Zahl noch sehr hoch.
Würden die Verleger dieses Lesersegment nicht mehr bedienen, würden sie also total am Markt vorbeiproduzieren. Keine einzige Studie widmet sich dieser Tatsache!
Die Behauptung, die Medien hätten die Digitalisierung verschlafen, ist zudem eine alte Stammtischbehauptung. Das Gegenteil ist wahr: Die Medienhäuser sind voll dran:
- Wenn man sich die Angebote von NZZ und Tages-Anzeiger anschaut, muss man von einer perfekten Verzahnung analoger und digitaler Inhalte sprechen.
- Watson hat schon vor Jahren einen Weg aufgezeigt. Und Ringier spielt erfolgreich auf allen Kanälen.
- Viele kleine und mittlere Verlage widmen sich intensiv der Digitalisierung und bieten ihre Inhalte längst auch in digitalen Formaten an.
Hier sind aber die internationalen Techgiganten die Spielverderber! Sie profitieren vom Erfolg schweizerischer journalistischer Arbeit. Zum Nulltarif! Sie übernehmen unsere Inhalte, ohne die Verlage und die Journalisten dafür zu entgelten.
Deshalb braucht es das Leistungsschutzrecht, das der Bundesrat in wenigen Tagen in die Vernehmlassung schickt. Weil er weiss, wie wichtig ein funktionierender Jounalismus für die Schweiz und ihre Demokratie ist.
Unser Jahresziel Nr. 1 ist, diesem Leistungsschutzrecht zum Durchbruch zu verhelfen. Sie werden dazu heute von unserem Geschäftsführer Stefan Wabel noch etwas hören.
Das fög – das ich von der obigen Kritik ausdrücklich ausnehme – hat in seinem jüngsten Jahrbuch drei medienpolitische Erkenntnisse aufgelistet, die mir wesentlich erscheinen:
>> Erstens, ich zitiere: «Damit in der Schweiz das Qualitätsniveau (des Journalismus) erhalten werden kann, sind Investitionen in seine prekäre Ressourcenlage notwendig.»
- Untersuchungen zeigen: Je mehr lokal über Politik berichtet wird, desto höher ist die Teilnahme an demokratischen Prozessen; die Stimmbeteiligung und das Interesse an Politik steigen.
- Doch ausgerechnet im Lokaljournalismus macht sich eine schleichende Resignation breit. Während die Grossen die Digitalisierung schaffen, fehlen den Kleinen oft die Mittel dazu.
Hier setzen wir auf eine abgespeckte Neuauflage der Medienförderung, die auch den Kleinen und Mittleren den digitalen Umstieg ermöglichen soll.
In der Politik bewegt sich bereits etwas, entsprechende parlamentarische Vorstösse sind hängig. Wir sind den Damen und Herren aus dem Ständerat und aus dem Nationalrat – einige sind auch hier – dankbar dafür.
Diese neue Medienförderung, wir nennen sie Medienförderung 2.0, ist unser Jahresziel Nr. 2.
Und: Unsere beiden Ziele ergänzen sich gegenseitig, sie sind komplementär:
Das Leistungsschutzrecht ist ein urheberrechtlicher Anspruch, die Medienförderung eine Unterstützung. Das Leistungsschutzrecht schützt den Medienplatz Schweiz vor den internationalen Techplattformen, die Medienförderung stützt die regionalen Medien in der Grundversorgung der Bevölkerung.
Die eine Vorlage ersetzt also nicht etwa die andere, wie man oft hört. Beide Vorlagen machen Sinn und sind richtig.
>> Der zweite Punkt des fög: «Es braucht eine andere Rede über Journalismus».
Das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, und ich meine das keineswegs ironisch.
- Das fög schreibt: «Unsere Studien belegen, dass die journalistische Qualität insgesamt noch immer als vergleichsweise gut zu beurteilen ist. Es braucht mehr positiven Diskurs über die journalistischen Medienleistungen, namentlich von prominenten Vertretern aus Politik, Kultur oder Wirtschaft.»
Diese Worte in Gottes Ohr. Und in jenes von Politikerinnen und Politikern, die sich vor allem an ihren negativen Erlebnissen mit Medien orientieren.
Der Verlegerverband will den Dialog mit der Politik pflegen. Stefan Wabel und ich haben dazu schon viele Gespräche mit Parteiexponenten geführt. Wir spüren diese Unterstützung von links bis rechts. Und es freut mich darum sehr, dass wir heute FDP-Präsident Thierry Burkart als Referenten bei uns haben.
Die Verleger wissen auch, was sie an ihren Journalistinnen und Journalisten haben. Sie investieren viel in eine gute Ausbildung und in attraktive Arbeitsplätze. Und im Zusammenhang mit dem Leistungsschutzrecht ist uns auch wichtig, dass die Journalisten einen angemessenen Anteil aus den Vergütungen der Techplattformen erhalten.
>> Drittens sagt das fög: «Journalismus ist systemrelevant. (...) Nötig ist deshalb eine bildungspolitische Offensive, die dem Journalismus in den Bildungsinstitutionen und in den Schulen wieder grössere Achtung verschafft.»
Der Verlegerverband ist hier mit gut einem Dutzend Initiativen aktiv, teils sind es eigene, teils handelt es sich um Beteiligungen an anderen Projekten. Unser Medieninstitut unter der Leitung von Marianne Läderach spielt eine führende Rolle bei der Vermittlung von medialem Grundwissen in Schulen.
Zusammenfassend, meine Damen und Herren, kann ich feststellen:
- Wenn künftig wegen denjenigen, denen demokratierelevante Informationen egal sind, solche Informationen nicht mehr an diejenigen gelangen, die sie wollen und brauchen, muss der Staat eingreifen. Er muss das behutsam tun, im subsidiären, nicht im umfassenden Sinn.
- Und er muss das Urheberrecht durchsetzen, damit internationale mediale Trittbrettfahrer die Branche in der Schweiz nicht nachhaltig schädigen.
- Die Medienhäuser und die Schulen müssen dafür sorgen, dass in der Erziehung und Bildung der Wert des Journalismus wieder besser erkannt wird.
Das ist nicht nur eine Aufgabe für das Jahr 2023, nein, es ist eine Daueraufgabe.
Zum Schluss noch eine beruhigende Nachricht: Der neue Medienminister, Bundesrat Rösti, scheint kein News-Deprivierter zu sein. Unbestätigten Gerüchten zufolge soll er kürzlich im Zug beim Lesen einer Zeitung beobachtet worden sein.
Herzlichen Dank!